Prof. Dr. Tobias Straumann zur Zukunft des Werkplatzes Schweiz «Unser Bildungssystem ist die Basis des Erfolgs»
Anbieter zum Thema
Wie haben sich die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren rund um den Werkplatz Schweiz entwickelt? Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Tobias Straumann zeigt im Interview die Wechselwirkungen zwischen Politik, Weltwirtschaft und Werkplatz Schweiz auf. Für den Werkplatz Schweiz spielt der Aussenhandel eine entscheidende Rolle: Im Rahmen der aktuellen Krisensituationen (Corona – Ukraine-Krieg) ergeben sich entsprechend spezifische Herausforderungen.

SMM: Herr Straumann, der Werkplatz Schweiz (MEM-Exportvolumen von 60 [2000] auf 65 Mrd. CHF [2019]) verlor in den letzten 20 Jahren gegenüber seinen Mitbewerbern Deutschland (von 80 auf 180 Mrd. EUR) und Österreich (von 30 auf 60 Mrd. EUR) im Verhältnis an Exportvolumen. Was könnten aus Ihrer Sicht die Gründe sein für die relative MEM-Exportschwäche der Schweiz gegenüber ihren Nachbarstaaten?
Prof. Dr. Tobias Straumann: Der Hauptgrund ist die kontinuierliche Aufwertung des Schweizer Frankens seit 2008. Die Industriestandorte Deutschland und Österreich haben im Vergleich zur Schweiz eine schwache Währung, weil sie vor zwanzig Jahren den Euro übernommen haben. Wenn es die D-Mark und den Schilling noch gäbe, sähe die Sache ganz anders aus. Die Europäische Zentralbank nimmt ja Rücksicht auf das gesamte Euro-Gebiet, also auch auf Länder mit einer schwächeren Produktivität als Deutschland und Österreich. Daraus resultiert für die beiden Nachbarländer der Schweiz ein Wechselkurs, der im Verhältnis zur Produktivität eigentlich zu schwach ist.
Welche Faktoren spielen ausserdem eine Rolle?
T. Straumann: Das Bildungs- und Innovationssystem ist die Basis des Erfolgs. Auch die Zuwanderung hat für den Werkplatz in der Geschichte immer eine positive Rolle gespielt. Die Infrastruktur ist ausgezeichnet, wir haben eine Verwaltung, die sehr effizient agiert. Auch die Steuerlasten sind moderat, der Rechtsrahmen ist sehr stabil. Schliesslich ist der liberale Arbeitsmarkt in Verbindung mit einer grosszügig ausgebauten Arbeitslosenversicherung und einer flexiblen Kurzarbeitsregelung von grossem Vorteil.
Welche Rolle spielen die Bildungsinstitutionen in ihrer gesamten Breite für den Werkplatz Schweiz und wie sehen Sie den aktuellen Ausschluss der Schweiz aus dem 100 Milliarden Euro schweren Forschungsprogramm «Horizon Europe»?
T. Straumann: Die Bildungsinstitutionen sind absolut entscheidend. Besonders wertvoll ist das Berufsbildungssystem, aber selbstverständlich leisten auch die Universitäten, die ETH-Gruppe und die Fachhochschulen einen enormen Beitrag zum Wohlstand der Schweiz. Wichtig ist, dass wir die Balance zwischen der akademischen und der praktischen Ausbildung aufrechterhalten. Beim Themenkomplex «Horizon Europe» bin ich der Auffassung, dass es für den Forschungsstandort Schweiz weniger dramatisch ist, als es in den Medien bisweilen behauptet wird. Es ist zwar richtig, dass der partielle Ausschluss aus Horizon einen Prestigeverlust bedeutet, aber die Schweiz hat durchaus Möglichkeiten, in Kooperation mit Staaten ausserhalb der EU attraktive Programme zu entwickeln. Nun sind gute Ideen gefragt. Am Geld kann es nicht liegen.
Welche Faktoren sind aus Ihrer Sicht entscheidend, damit der Industriestandort Schweiz zukunftsfähig bleibt?
T. Straumann: Aufgrund der starken Währung stehen die exportorientierten Schweizer Unternehmen unter einem starken Preisdruck. Sie müssen deshalb besonders innovativ sein, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Man spricht von einer Innovationspeitsche. Den deutschen und österreichischen Exportunternehmen fehlt derselbe Wettbewerbsdruck. Sie sind deswegen im Durchschnitt weniger innovativ und weniger krisenresistent als die schweizerischen Exportunternehmen.
Das heisst, ein Währungsdruck baut Innovationsdruck auf.
T. Straumann: Ja, das kann man so vereinfacht sagen. Allerdings ist es wichtig, dass die Aufwertung kontinuierlich und nicht ruckartig verläuft. Ansonsten geraten viele MEM-Exportunternehmen in existenzielle Probleme.
Warum entwickelt sich der Schweizer Franken derart stark?
T. Straumann: Eine entscheidende Rolle spielt die Einführung des Euros. Immer wenn die Situation im Euro-Raum brenzlig wird, bietet sich der Schweizer Franken als sicherer Hafen an, was einen Aufwertungsdruck mit sich bringt. Früher übernahm die Funktion der starken Währung die D-Markt gemeinsam mit dem holländischen Gulden und dem Schweizer Franken. Gulden und D-Mark sind als starke Währung weggefallen, so dass sich nun der Schweizer Franken immer auch gegenüber Deutschland aufwertet. Das ist neu und besonders herausfordernd.
Gleichwohl, spezifische Branchen im Industrieumfeld entwickelten sich positiv.
T. Straumann: Pharma, Uhren und die Medizintechnik zeigen sich trotz starkem Franken in einer guten Position. Bei den Uhren liegt das an deren Alleinstellungsmerkmal: Swiss made inklusive Luxus-Segmentierung, wodurch die Schweizer Uhrenhersteller ihre Preise entsprechend auf dem Markt durchsetzen können. Auch Pharma und Medizintechnik sind weniger preissensitiv als die meisten MEM-Firmen, weil sie Nischen besetzen können. Zudem ist die Nachfrage stabil, weil sie durch staatliche Krankenversicherungssysteme gestützt wird. Die MEM-Firmen müssen mit heimtückischen Zyklen fertigwerden.
Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen der Schweizer Finanzwirtschaft und dem Werkplatz Schweiz?
T. Straumann: Die Schweiz hatte traditionell immer sehr tiefe Zinsen. Dadurch war die Refinanzierung günstiger für die Industrie im Vergleich zu anderen Ländern. Das hatte weniger mit dem Bankgeheimnis zu tun, wie oft behauptet wird, als mit der Stabilität der Währung. Man wusste, dass sich der Schweizer Franken langfristig aufwertet, so dass die Anleger eine geringere Rendite in Kauf nahmen. Das ist heute immer noch der Fall, aber seit der Tiefzinsphase sind die Refinanzierungskosten kein Thema mehr. Vielleicht ändert sich das jetzt wieder. Die Inflationsdynamik müssen wir ganz genau beobachten, um nicht überrascht zu werden.
Hohe Lohnkosten bringen auf den ersten Blick den Unternehmen eine höhere Kostenstruktur. Welche Vor- und Nachteile sehen Sie in den hohen Lohnkosten am Werkplatz Schweiz?
T. Straumann: Hohe Lohnkosten in der Schweiz sind primär die Folge von sehr produktiven Unternehmen. Es ist der Ausdruck des Erfolgs des Werkplatzes Schweiz, was letztlich auch Ausdruck einer leistungsfähigen Exportindustrie ist. Um eine hohe Produktivität zu erzielen, braucht es gute Mitarbeiter, entsprechend sind die Löhne an deren Qualifikation angepasst. Auch für qualifizierte Mitarbeiter aus dem Ausland ist das hohe Lohngefüge in der Schweiz attraktiv.
Gleichwohl, im produzierenden Bereich scheint es immer schwieriger zu werden, gute Mitarbeiter zu bekommen. Liege ich in der Beurteilung richtig, wenn ja, woran liegt das aus Ihrer Sicht?
T. Straumann: Das liegt auch im gesellschaftlichen Wandel begründet. Die Wertschätzung für die metallverarbeitenden Berufe und die metallverarbeitende Industrie hat über die Jahre abgenommen. Das sieht man auch innerhalb der Fakultäten unserer Hochschulen: Wirtschafts-, Geistes und Sozialwissenschaften verzeichnen höhere Studentenzahlen als die technischen Studiengänge, obwohl sie volkswirtschaftlich weniger wichtig sind als die MINT-Fächer. Das ist der Ausdruck einer veränderten Wertehaltung. Die Probleme haben fast alle Länder. Gut ausgebildete technische Fachkräfte werden sehr gesucht, wir sprechen auch vom «war of talents».
Die hohe Kostenstruktur am Standort Schweiz fördert zum einen die Innovationskraft, aber sie bringt auch Produktionsauslagerung. Wann sind Produktionsauslagerungen ins Ausland aus Ihrer Sicht sinnvoll?
T. Straumann: Sie sind in vielen Fällen sinnvoll und haben eine grosse Tradition in der Schweizer Industriegeschichte. Auslagerung bedeutet nicht automatisch, dass sich der Werkplatz im Niedergang befindet. Besorgniserregend wird es erst, wenn nur noch Auslagerungen stattfinden, aber nichts Neues im Inland nachkommt, weil die Innovationskraft fehlt.
In einem Interview sagten Sie: «Es ist entscheidend, dass eine Volkswirtschaft kontinuierlich ein hohes Mass an Offenheit und Wettbewerb fördert.» Der aktuelle Russland-Krieg in der Ukraine zeigt eindrücklich, wie Staaten mit unterschiedlichen Mitteln – auch mit Gewalt – ihre politisch-wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen versuchen. Sollte das einen Einfluss haben auf die wirtschaftlichen Beziehungen zu Staaten wie Russland und China?
T. Straumann: Das ist die grosse Frage, die schon seit einiger Zeit auf dem Tisch liegt und mit dem Krieg in der Ukraine wirklich drängend geworden ist. Handel mit diktatorischen Regimen ist durchaus zulässig, aber die Firmen müssen auf abrupte Veränderungen vorbereitet sein. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan, vor allem beim chinesischen Markt. Er ist ungeheuer wichtig für die gesamte Weltwirtschaft. Ein Ausstieg ist schwierig. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie man die Abhängigkeit lockern könnte, ohne massive Wettbewerbsnachteile oder Ertragseinbrüche in Kauf nehmen zu müssen.
Bedarf es einer höheren Sensibilität und ggf. stärkerer Restriktionen, wenn ausländische Investoren – aus Ländern wie China oder Russland – in Schweizer Technologieunternehmen investieren wollen?
T. Straumann: Ausländische Investitionen sind wichtig, aber es ist sinnvoll, spezifische Technologien unter dem Stichwort der nationalen Sicherheit nicht ausländischen Investoren zur Verfügung zu stellen. Es sollte aber nicht auf einzelne Länder bezogen werden, besser wäre es, wenn spezifische Wirtschaftszweige einem strategischen Schutz unterliegen würden. Beispiel: Energiewirtschaft. Wir können derzeit in Deutschland gut beobachten, wo die Gas-Wirtschaft zum grossen Teil in der Hand russischer Unternehmen liegt, inklusive der Gasspeicher. Das macht Staaten erpressbar. In unproblematischen Bereichen sollte man liberal bleiben. Das ist wichtig, denn das steigert auch den Wert der Unternehmen und des Wirtschaftsstandorts.
Ein wichtiger Faktor für eine gute wirtschaftliche Entwicklung ist die wirtschaftspolitische Stabilität. Gerade jetzt am Ukraine-Krieg erkennt man, wie schnell sich die politische Stabilität eines Landes ändern kann. Ist das stabile Schweizer Gesellschaftssystem eine der grossen Stärken der Schweiz und damit nach wie vor interessant für Investoren?
T. Straumann: Das würde ich bestätigen. Alle reichen OEC- Länder sind erfolgreich, weil sie wirtschaftspolitisch stabil sind, gestützt von Demokratie und Rechtsstaat. Die Institutionen der OECD-Staaten sind nicht immer perfekt, aber das Grosse und Ganze stimmt. Entscheidend sind auch pluralistische Elemente, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Das sind unbezahlbare Standortvorteile. Es gibt nur wenige Länder, die stabil und zuverlässig sind. Die Schweiz gehört eindeutig dazu.
Wenn Sie China betrachten würden, würden Sie sagen, es ist ein stabiles System?
T. Straumann: Ein klares Nein. China ist nicht offen, es handelt sich um kein stabiles wirtschaftspolitisches System. Es gibt immer wieder Enteignungen. Die Kapitalflüsse sind nicht frei. In China weiss man nicht, wie sich das System in zehn Jahren entwickelt. China ist eine Diktatur, die – auch geopolitisch – unberechenbar geworden ist.
Demgegenüber steht Taiwan als demokratischer Staat.
T. Straumann: Taiwan ist wirtschaftspolitisch sehr stabil, es ist vergleichbar mit den reichen europäischen OECD-Ländern. Es ist beeindruckend erfolgreich. Aber es ist geopolitisch in einer Risiko-Position, womit wir wieder bei China wären.
Schlussfrage: Welche politischen Signale müssen seitens der Politik gesetzt werden, damit der Werkplatz Schweiz in Zukunft gute Rahmenbedingungen hat, um zukunftsfähig zu bleiben?
T. Straumann: Die Nationalbank muss wie bis anhin auf den Wechselkurs des Schweizer Frankens achten, damit er sich kurzfristig nicht zu schnell und zu stark aufwertet. Wir müssen konstant daran arbeiten, dass das Berufsbildungssystem attraktiv bleibt und nicht von akademischer Seite schlechtgeredet wird. Wir müssen auf Hochschulstufe dafür sorgen, dass der Kontakt zur Industrie weiterhin gut und eng ist. Dann sollten wir in der Volksschule wieder zu einem System zurückkehren, in dem der Fokus auf den Grundfertigkeiten liegt und die Lehrpersonen mehr Freiheiten als heute haben. Der spürbare Niedergang beim Lesen, Schreiben und Rechnen und die zunehmende Unzufriedenheit der Lehrpersonen haben für mich ein besorgniserregendes Ausmass angenommen. Trotzdem bin ich insgesamt optimistisch. Die Basis der Schweiz ist nach wie vor hervorragend. SMM
(ID:48265419)